Programm
Herbsttagung der DVPB vom 17. - 19. November 2022
im digitalen Raum des Landesverbands Baden-Württemberg
in Kooperation mit der Heidelberg School of Education
Politische Bildung und die Herausforderung
»digitaler Souveränität« im 21. Jahrhundert
Vortragende der geplanten Tagungsbeiträge in alphabetischer Reihenfolge:
Dr. Eckhard Benner (Verbraucherzentrale Baden-Württemberg)
Verbraucherbildung als politische Bildung
Im Konzept der Consumer Citizenship kommt die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Verbraucher:innen in eigener politischer Sache zum Ausdruck. In ihr liegt zugleich die Verbindung zwischen politischer und Verbraucherbildung.
Consumer Citizenship wird hier verstanden als Form politischer Partizipation von Verbraucher:innen, die auf Grundlage ihrer Analyse einer verbraucherrelevanten Situation und der eigenen Interessenlage direkte bzw. indirekte konsumbezogene Handlungen ("politischer Konsum") einsetzen, um die vorgefundene Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen. Dies gilt selbstverständlich nur für die konsumbezogenen Handlungen, denen die freiheitlich-demokratischen Prinzipien Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität zugrunde liegen.
Damit jedoch politisch motivierte Verbraucher:innen das Konzept Consumer Citizenship reflektiert für sich fruchtbar machen können, ist es ratsam, das Konzept zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. An einem Unterrichtsbeispiel kann dargelegt werden, wie Consumer Citizenship altersgerecht unterrichtet werden kann.
Die sich daraus ergebenden Implikation für die Forderung digitaler Souveränität von unten werden aufgezeigt. Der Beitrag zeigt damit zugleich die Verbindung zwischen politischer und Verbraucherbildung auf.
Werner Friedrichs (Otto-Friedrich-Universität Bamberg)
Souverän unsouverän. Thesen zu einer posthumanistischen Fassung digitaler Souveränität
Wolfgang Sander formulierte auf dem Auftaktpodium der GPJE-Jahrestagung 2022 mit dem Rahmenthema Politische Bildung und Digitalität, dass das Verhältnis zwischen Politischer Bildung und Digitalität nach anfänglicher Näherung und zwischenzeitlich aufkeimendem Zukunftsoptimismus inzwischen von Skepsis, Enttäuschung und Kritik gezeichnet sei. Auf der Blaupause, die dieser verbreiteten Lesart zugrunde liegt, steht ein zur Autonomie fähiges, humanes Subjekt einem monströsen Digitalen gegenüber. Über mehr oder weniger versteckte, verteilte, kybernetische Algorithmen droht dieses Subjekt seine Souveränität zu verlieren: in der digitalen Gegenwart nicht mehr durch repressive Maßnahmen einer Disziplinargesellschaft, sondern durch die permissiven Ermöglichungsmechanismen der Kontrollgesellschaft. Ergänzen Sie bitte hier Ihre Profildaten!
In einem etwas weniger pessimistischem Grundton interpretieren Einlassungen aus der sogenannten Digital Citizenship Education diese neuen digitalen Möglichkeitsräume als grundsätzliche Erweiterungen der Partizipationsmöglichkeiten. Gerade für die (wohl nicht mehr lange so genannten) digital natives stellen digitale Formate eine vergleichsweise niedrigschwellig angelegte Möglichkeit dar, sich in demokratische Prozesse einzubringen. Diese mediale liquidicy soll nach Möglichkeit auch digitale Bildungsformate auszeichnen – Liquid Education. Durch digitale Angebote werden Handlungskompetenzen zukünftiger Demokrat:innen gestärkt. Use your device to create democratic future!
»Digitale Souveränität« würde im Anschluss an diese beiden losen Enden des Diskurses immer noch von einem humanistischen Ausgangspunkt gefasst. Einmal muss humane Autonomie gegen die Übergriffe des Digitalen verteidigt werden, ein andermal ist Digitalität das Mittel zur Entfaltung humaner Handlungsfreiheit. Längst haben Neukartierungen eine postdigitale Gegenwart konturiert – eine terra digitalis, in der es keinen Sinn mehr ergibt, von einem Nichtdigitalen auszugehen, in der das Digitale nicht auf eine technische Entwicklung verkürzt wird, in der sich Mensch-Maschine-, Mensch-Software-Unterscheidungen auflösen, in der der Humanismus keinen belastbaren Ausgangspunkt mehr darstellt, um digitale Souveränität zu konturieren. Im Vortrag soll in Thesen vorgestellt werden, von welchen Voraussetzungen, Praxen und Zielsetzungen ausgegangen werden müsste, um zu einer posthumanistischen Fassung digitaler, unsouveräner Souveränität zu gelangen.
Dr. Luisa Girnus (Universität Potsdam)
Digital lenken oder digital denken? Irrwege Politischer Bildung zwischen Digitalisierung und Digitalität
Die Übersetzung digital geprägter Lebenswirklichkeiten in politische Bildungspraxis kann nicht allein die Umformulierung üblicher Methoden und Wege politischen Lernens in digitalisierter Lehr-Lernarrangements bedeuten. Folgt man der Argumentation von Stalder (2016), muss in einer Kultur der Digitalität gesellschaftliche und damit auch politische Praxis in ihrer digitalen Handlungslogik gedacht werden. Als Konsequenz daraus lässt sich eine Verschiebung sowohl der Zielstellung als auch der Umsetzung politischer Bildung vermuten. Darin birgt sich vor allem auch eine Chance – ganz im Sinne Papacharissis (2021, 103): „Politics does not have to be boring, yet the formulas we are taught for being political often reproduce routines that we no longer find rewarding“. Gerade schulische politische Bildung ist allerdings trotz formaler Neuausrichtung an subjektiven Fähig- und Fertigkeiten weiterhin an Bildungsstandards ausgerichtet, die Politik als Hierarchiegebäude mit Bürger:innen als vergleichsweise homogenen Akteur im Gefüge eines Systems denken (vgl. z.B. RLP Brandenburg). Die Subjektivierung des politischen Lernens besteht dann darin, sich als Lernende zum Erlernten zu verhalten oder simulativ zu verorten. Dieses Gap zwischen digitaler Lebenswelt und analogem Politikverständnis wird nicht durch Tablets oder digitale Abstimmungsmethoden im Unterricht überbrückt. Ohne den Bedarf digitaler Kompetenz (Bachmann et al. 2021) oder die Medienaffinität von Jugendlichen (MPFS 2021) in Abrede stellen zu wollen, geht der Beitrag (mit diskursiver Offenheit) der Frage nach, inwieweit politische Bildung sich auf inhaltlicher Ebene deutlich radikaler von einer primär politikwissenschaftlichen zu einer stärker sozioökonomischen Perspektive bewegen bzw. stärker digital denken muss, um Lernenden in einer digitalisierten Welt Werkzeuge zum Brückenbau zwischen individualisiertem Selbst und politischer Gemeinschaft zu geben.
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Bachmann, R. et al. (2021) Digitale Kompetenzen in Deutschland -eine Bestandsaufnahme, RWI Materialien, No. 150, ISBN 978-3-96973-092-8, RWI - Leibniz- Institut für Wirtschaftsforschung, Essen.
MPFS (2021) JIM-Studie 2021 – Jugend, Information, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger. In: https://www.mpfs.de/studien/ (14.07.2022)
Papacharissi, Z. (2021) After Democracy. Imagining our political future. New Haven/London: Yale University Press.
RLP, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Land Brandenburg (Hrsg.) 2015. Rahmenlehrplan Teil C. Politische Bildung. Jahrgangsstufen 7-10. In: https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/filead-min/bbb/unterricht/rahmenlehrplaene/Rahmenlehrplanprojekt/amtliche_Fassung/Teil_C_Politische_Bildung_2015_11_16_web.pdf (14.07.2022)
Stalder, F. (2016) Kultur der Digitalität. Frankfurt/M.: Suhrkamp
Stephanie Häusinger und Charlotte Lohmann (Amadeu Antonio Stiftung)
Workshop-Konzept von “firewall-Hass im Netz begegnen”
Projekt: „firewall – Hass im Netz begegnen“, das pädagogische Projekt der Amadeu Antonio Stiftung, das sich im Schnittpunkt von politischer Bildung und Medienpädagogik um die Herausforderungen der Digitalisierung und der Förderung von (digitaler) Zivilcourage dreht. Wir bauen ein bundesweites Netzwerk an Trainer*innen auf, zur Vermittlung des Themas Hass im Netz und digitale Zivilcourage in Workshops. Dafür wurden Bildungsmaterialien entwickelt, die stets verändert und an die aktuellen digitalen Entwicklungen angepasst werden. Zusätzlich geben wir regelmäßige Fortbildungen zu aktuellen Themen und nehmen an Fachaustauschen teil. Die Zielgruppe unserer Workshops sind Lehr- und Fachkräfte, Jugendliche und junge Erwachsene.
Inhalt: Eine der großen Herausforderungen der “digitalen Welt” ist der Umgang mit Hass, Bedrohung und gewaltvoller Sprache insbesondere auf sozialen Plattformen. Für viele Menschen, die in den sozialen Medien präsent sind, ist die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nicht selten Ursache für einen Rückzug aus digitalen Debatten. Wenn wir aber ein Internet wollen, indem sich die User*innen “selbstständig, selbstbestimmt und sicher” agieren können, müssen wir -neben der strafrechtlichen Verfolgung der Angreifenden - die Vermittlung von Kompetenzen im Schnittpunkt von politischer Bildung und Medienkompetenz stärker in den Mittelpunkt stellen, um die “digitale Souveränität” der User*innen zu stärken. Eine wichtige Antwort auf Hass im Netz ist das verantwortungsbewusste und konstruktive Handeln durch Zivilcourage auch im digitalen Raum. Denn der Übergang vom digitalen ins analoge ist fließend. In unserem Webinar werden diverse Handlungsoptionen für den täglichen Gebrauch vermittelt und konkrete Strategien der Gegenrede und positiven Erzählungen beleuchtet. Der Fokus liegt dabei auf das Weitergeben von Informationen, Ansätzen und konkreten Übungen für das Bearbeiten mit Jugendlichen im schulischen oder nonformalen Bildungskontext.
Inken Heldt, Jennifer Bloise und Manuel Theophil (TU Kaiserslautern)
Un(ter)belichtete Abhängigkeiten und Beeinflussungen? – Zum Horizont digitaler Souveränität in rheinland-pfälzischen Schulbüchern
Nach den Dimensionen einer selbstbestimmten Entfaltung des Subjekts, seines gestalterischen Hineinwirkens in Politik und Gesellschaft sowie seines solidarischen Umgangs mit all jenen, denen weder Selbstbestimmung noch Mitwirkung möglich sind (Klafki), ist der Begriff der Souveränität im Zusammenhang mit der Digitalisierung auf eine differenzierte Bestimmung und Auseinandersetzung mit Digitalisierungsprozessen angewiesen. Umgang zu suchen wäre in Bildungskontexten insbesondere mit Begriffen wie Digitalität und Datafizierung. Die Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse rheinland-pfälzischer Schulbücher der Politischen Bildung zum Thema Digitalisierung (inhaltlich strukturierende Analyse nach Kuckartz 2018; insges. 19 Schulbücher verschiedener Schulformen) legen nahe, dass es einer solchen differenzierten Perspektive in Schulbüchern gegenwärtig weitgehend ermangelt.
Dominant ist stattdessen die Beschäftigung mit vielfältigen Problemen und Gefahren (u. a. Fake News, Datendiebstahl, Verschwörungstheorien, Cybermobbing), denen jedoch häufig der Charakter von Epiphänomenen zugesprochen werden muss. Fragwürdig erscheint ferner der Umstand, dass die den Schüler*innen aufgezeigten Handlungsoptionen vornehmlich im Einüben von Achtsamkeits- und Vermeidungsstrategien bestehen. Die weit weniger affektiv aufgeladenen, nüchternen Fragen der politischen Bildung nach den Interessen sowie den Macht- und Herrschaftsstrukturen, die in und durch digitale Technologien zum Ausdruck kommen (was eben zu Begriffen wie ‚Digitalität‘ oder ‚Datafizierung‘ führen würde), verblassen vor dem akuten Problemdruck, den die Schulbücher nahelegen.
Derart zeigt die vorgenommene Schulbuchanalyse, wie ein positiv-gestalterisches Verhältnis zu Digitalisierungsprozessen ins Hintertreffen gerät. Strukturelle Phänomene wie etwa die Dominanz ökonomischer Handlungslogiken (z. B. in Gestalt der Nutzung gesammelter Daten für Werbezwecke), deren Verständnis eine sinnvolle Auseinandersetzung mit digitaler Souveränität überhaupt erst ermöglichten, bleiben un(ter)belichtet zurück.
Literatur:
• Berg, Sebastian/Rakowski, Niklas/Thiel, Thorsten, Die digitale Konstellation. Eine Positionsbestimmung, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 2/2020, S. 171–191.
• BMFSFJ, 16. Kinder- und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter, Berlin 2020.
• Klafki, Wolfgang, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik, 6. Aufl., Weinheim/Basel 2007.
• Klinger, Ulrike, Algorithmen, Bots und Trolle: Vom Ende der demokratischen Öffentlichkeit, wie wir sie kennen, in: Andreas Kost, Peter Massing und Marion Reiser (Hg.), Handbuch Demokratie, Frankfurt/M. 2020, S. 271–280.
Philipp Klingler und Alina Großmann (Philipps-Universität Marburg/ Universität Oldenburg)
„Digitale Teilhabe durch Memes? I doubt it!“ Memes als Medium und Lerngegenstand sprachlicher und politischer Bildung im sozialwissenschaftlichen Unterricht
„Digitale Teilhabe durch Memes? I doubt it!“ Memes als Medium und Lerngegenstand sprachlicher und politischer Bildung im sozialwissenschaftlichen Unterricht Karikaturen gehören längst zu den beliebtesten Medien im sozialwissenschaftlichen Unterricht; das eher neue Format der Memes hingegen wird bisher weitgehend ausgeblendet. Memes sind Grafiken, die aus einer digitalen Text-Bild-Kombination bestehen und sich dabei häufig in humoristischer Art auf eine realweltliche Situation beziehen. Ihr Einsatz im Unterricht wird bisher vor allem durch den Motivationseffekt (Pescher & Thees, 2016) begründet. Über dieses instrumentelle Argument hinaus erhalten Memes ihre Bedeutung für den Unterricht aber durch ihre Rolle in der „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2019): Dort stehen sie prototypisch für digitale Verfahren, die durch Referenzialität und Gemeinschaftlichkeit geprägt sind. Rezeption und Produktion von Memes können als „Verfahren des Sich-Einschreibens in die Welt durch Hinweisen, Verbinden und Verändern [...], um durch das eigene Handeln in der Welt Bedeutung zu schaffen und um sich selbst in ihr zu konstituieren“ (Stalder, 2019, S. 123), gelten.
Durch Memes können Situationen beurteilt, Emotionen artikuliert und auch Nicht-Sagbares gesagt werden; sie erweitern somit die Formen politisch-gesellschaftlicher Partizipation (Shifman, 2014, S. 137). Anhand dieser netzkulturell bedeutsamen Medienform können grundlegende Lesarten des Digitalen vermittelt und eigene Möglichkeiten der Teilhabe eröffnet werden. Das Verständnis von Memes stellt dabei neue Anforderungen an die politische Urteils- und Handlungskompetenz (Klingler & Großmann, i. E.) wie auch an sprachliche Kompetenzen (Leisen, 2015), die die Voraussetzung der Rezeption und Produktion und damit zur Förderung der Mündigkeit in einer digital geprägten Welt sind.
Bisherige didaktische Ansätze fokussieren vorwiegend die Produktion von Memes im (Fremd-)Sprachenunterricht (Wampfler, 2015). Der Einsatz von Memes zur sprachlichen und politischen Bildung hingegen wurde bisher nicht erforscht. Das explorativ angelegte Forschungsvorhaben untersucht in einem ersten Schritt mithilfe leitfadengestützter Interviews die Perspektive von Lehrer:innen auf Memes und erhebt wahrgenommenen Potenziale und Herausforderungen. Das übergeordnete Ziel ist es, anhand der Ergebnisse die didaktischen Potenziale und Herausforderungen sprachlicher und politischer Bildung zu skizzieren und in weiterführende empirische Forschungsarbeiten zu übersetzen.
Literatur
Klingler, P. & Großmann, A. (i. E.). Politische Urteilsfähigkeit unter den Bedingungen der Digitalität: Memes und politische Urteile. In P. Stark & J. Borntraeger (Hrsg.), Urteilsbildung im Dialog. Wochenschau Verlag.
Leisen, J. (2015). Fachlernen und Sprachlernen! MNU, 68(3), 132-137. Massing, P. (2020). Zur Bedeutung von Bildungssprache und Fachsprache im Politikunterricht. WOCHENSCHAU Sonderausgabe, Sprachbildung im Politikunterricht, 4-9.
Prescher, T., & Thees, M. (2015). Memes als moderne Bildungsmedien: Humor als Medium pädagogischer Interaktion zur Wissenskonstruktion im Physikunterricht. Bildungsforschung,12(1), 147-178.
Shifman, L. (2014). Meme. Kunst, Kultur und Politik im digitalen Zeitalter. Suhrkamp. Stalder, F. (2019). Kultur der Digitalität (4. Aufl.) Suhrkamp.
Wampfler, P. (2015). Memes im Unterricht. In E. Höfler, & J. Wagner (Hrsg.), Sprachunterricht 2.0 (S. 90-99).VWH Verlag.
Prof. Dr. Ralf Lankau (Hochschule Offenburg)
Souverän – trotz und mit Digitaltechnik im Netz
Viele Diskussionen über Digitalisierung, digitale Transformation und Digitalität eint eine einseitige Fokussierung. Im Mittelpunkt stehen technischen Systeme auf Basis eines ungetrübten Fortschritts- und Technikglaubens. Wie beim Mobilitätswahn der 1920er und wieder in den 1960er Jahren mit der Fiktion der „autogerechten Stadt“ geht bei jeder Technikfixierung der Mensch mit seinen Bedürfnissen verloren. Dabei muss man gerade im Kontext weltweiter Vernetzung und digitaler Transformation zunehmend aller Lebensbereiche durch Algorithmen und Automatisierungstechnik dringender denn je differenzieren zwischen technischer Infrastruktur, konkreten Diensten und bereits erkannten, zum Teil gravierenden Folgen für Demokratie, Gesundheit und Gemeinschaft.
Bundeskanzlerin a.D., Frau Dr. Angela Merkel, nannte das Internet im Jahr 2013 „Neuland“. Die Netzhäme war ihr sicher, dabei hatte sie Recht. Als promovierte Physikerin adressierte sie mit dieser Metapher nicht Computer, Netzwerke oder technische Details von Datenverarbeitungssystemen, sondern die sozialen und politischen Folgen von Automatisierung durch Algorithmen und Big Data. Das Ziel der IT-Monopole – die umfassende Steuerung menschlichen Verhaltens durch Rechnersysteme und die sog „Künstliche Intelligenz“ – war benannt, die Folgen nicht reflektiert.
„Die Rückgewinnung des politischen Raumes – gegen die Verrohung und Verkürzung der Sprache, aber auch gegen die ungeheure Machtkonzentration bei den ""Big Five"", bei einer Handvoll von Datenriesen aus dem Silicon Valley“ sei die drängendste Aufgabe formulierte der Bundespräsident, Dr. Frank-Walter Steinmeier, auf dem Kirchentag 2019. Der ehemalige amerikanische Präsident, Barack Obama, internetaffiner „early adaptor“, der Social Media-Kanäle geschickt für seine Wahlen zum US-Präsidenten einzusetzen wusste, referierte im April 2022 vor Studierenden in Stanford über die unterschätzten bzw. ausgeblendeten Folgen der Netztechnologien: Desinformation durch Social Media-Kanäle sei eine Bedrohung für die Demokratie. IT-Konzerne seien in die Pflicht zu nehmen, der Staat aufgefordert, zu regulieren. (Obama, 2022) Es geht bei „digitaler Souveränität“ um deutlich mehr als Technik. Das muss aufgrund hoher Technikaffinität und intensiver Mediennutzung gerade junger Menschen sowohl in der schulischen wie in der politischen Bildung thematisiert werden.
Als These sei formuliert: Diskussionen über digitale Souveränität sind keine primär technischen, sondern notwendig gesellschaftliche und politische Diskurse über Fragen der individuellen und gesellschaftlichen Handlungsfreiheit und die Entscheidungshoheit im Umgang mit und dem Einsatz von (digitalen) Medien und Diensten.
Christian Mäncher und Axel Karger (Stabsstelle Digitales Kompetenzzentrum Rheinland-Pfalz)
Digitale Souveränität durch den Schulcampus in Rheinland-Pfalz
Das Land Rheinland-Pfalz betreibt für seine Schulen eine einheitliche digitale Lernplattform. Im Schulcampus werden viele pädagogische Angebote des Landes über ein Portal und mit einem Single-Sign-On zur Verfügung gestellt. Von Moodle über eine pädagogische Cloud und Mediendistribution bis hin zur Videokonferenzsoftware setzt das Land dabei auf quelloffene Software.
Im Vortrag wird der Schulcampus und Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitstudie vorgestellt. Außerdem blicken die Referenten auf Fragen der Akzeptanz und den Zusammenhang mit der KMK-Strategie „Bildung in der digitalen Welt“.
Christian Mühleis (Pädagogische Hochschule Heidelberg)
Robotik in der politischen Bildung: Black Box oder Medium zur Anbahnung digitaler Souveränität?
Inhaltlich interessiert sich die politische Bildung für gesellschaftlich umstrittene Fragen (Giesecke 1965, S. 21). Ihre Unterrichtsverfahren sind daran angepasst und folgen dem Beutelsbacher Konsens (Wehling 2016). Das erfordert eine kritische Distanz der politischen Bildung zu ihren Unterrichtsinhalten – so auch zur Digitalisierung.
Im Sinne einer kritischen Theorie, kann eine kritische Distanz eine Zurückhaltung gegenüber affirmativen Positionen beschreiben. Die politische Bildung lässt sich demnach nicht für digitale Entwicklungen vereinnahmen.
Eine andere Bedeutung hat die Zuschreibung kritisch, wenn sie im Kontext eines Kompetenzbegriffs fällt. Wird der Zustand von Fähigkeiten und Fertigkeiten als kritisch beschrieben, deutet das auf Entwicklungsaufgaben hin. Neue Technologien in den Unterricht zu implementieren gehören grundsätzlich dazu (Drossel und Eickelmann 2018). Auffällig am fachdidaktischen Kompetenzstand ist, dass Algorithmen oder Programmierlogiken in der politischen Bildung wenig Interesse hervorrufen (vgl. Leerstellen in Weißeno 2001; Sander 2007; Besand und Sander 2010; Hauk 2018). Oft genug verschwindet die Technik in einer Black Box (Belliger und Krieger 2006).
Die kritische Distanz der Politikdidaktik scheint doppelt zu wirken. Anders sieht es in der Medienpädagogik (z.B. Sander et al. 2020) aus. Sie ist bei der Implementierung von Unterrichtsmedien weiter. Die Robotik hat beispielsweise Einzug in ihr didaktisches Setting gefunden (z.B. Florio-Hansen 2020). Die politische Bildung nutzt die Interaktionsformen zwischen digitaler und physischer Welt der Robotik noch nicht. Potenziale sollten diskutiert werden, denn Medien spielen eine entscheidende Rolle im Unterricht (Klafki 2019, S. 88).
Der geplante Vortrag skizziert Potenziale und Herausforderungen der Robotik im Politikunterricht. Am Beispiel eines einfachen Roboters wird in die Programmierung von Algorithmen eingeführt. Es werden damit einhergehende Unterrichtsbeispiele vorgestellt und mögliche Kontroversen diskutiert. Die These des geplanten Vortrags lautet: Didaktische Fragen zur Robotik im Unterricht stellen Entwicklungsaufgaben und -chancen der Politikdidaktik dar. Der Einsatz von Robotern ermöglicht die Analyse digitaler Black-Box-Phänomene im Politikunterricht. Trotz der Nähe zu technischen Abläufen ist eine kontroverse Grundhaltung zur Digitalisierung möglich. In Kombination aus Black-Box-Analysen und kontroverser Distanz kann eine digitale Souveränität angebahnt werden.
Manuel Münz, Tammy Baric (SOS Kinderdorf) und Swantje Borukhovich-Weis (Universität Duisburg-Essen)
Kinder und Jugendliche gestalten ihren Lebensraum Kooperationsprojekt zum kreativen und digitalen Lernen des SOS-Kinderdorfs in Essen und des Instituts für Sachunterricht (ISU) an der Universität Duisburg-Essen (UDE)
Öffentlicher Raum steht Kindern und Jugendlichen (KuJ) u. a. aufgrund von Industrialisierung und Kommerzialisierung nur eingeschränkt als Interaktions- und Sozialisationsraum zur Verfügung (Blinkert 2017). Vorhandene Aktionsräume für KuJ entsprechen vielfach nicht ihren Vorstellungen (ebd., 28-29). In der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht auf Bildung, Mitsprache und kreative Beteiligung von KuJ festgeschrieben (Deutsches Komitee für UNICEF e. V. o. D.). Schule soll ein Ort der Partizipation sein, bleibt aber häufig hinter diesem Ideal zurück (Borukhovich-Weis et al. 2022, im Druck) und ist vielmehr durch Leistungs-, Bewertungs- und Selektionsdruck gekennzeichnet (Maywald 2012). Die pandemiebedingten Einschränkungen an Schulen haben diesen Druck erhöht. Insbesondere marginalisierte Schüler*innen beispielsweise aus armen Familien haben darunter gelitten (u. a. Klundt 2022).
KuJ sind kreativ (Popitz 1997). Sie wollen sich (politisch) beteiligen und ihren (öffentlichen) Lebensraum mitgestalten (u. a. Kenner 2021). Die in (außer)schulischen Kontexten erprobte „Innovativität fördernde Simulation“ (IfS) (Gryl et al. 2022, im Druck) ist eine Methode zur Förderung der „Bildung für Innovativität“ (BfI) (Weis et al. 2017). Die BfI hat zum Ziel, Schüler*innen anzuregen, über ihre Lebenswelt zu reflektieren, solidarische Ideen für Veränderung zu entwickeln und auszuloten, wie Innovationen etabliert werden können (ebd.). Die BfI verfolgt damit Ziele einer subjektorientierten, kritischen, politischen Bildung (u. a. Scherr 2021).
Im Zuge einer Kooperation mit dem SOS-Kinderdorf in Essen haben die Mitarbeiter*innen des Kinderdorfes und des Instituts für Sachunterricht (ISU) mit 12 KuJ im Altern vorn 7 bis 11 Jahren zwei Wochen im Ferienprogramm 2022 die IfS durchgeführt. Teil der IfS waren Stadtteilbegehungen, die medial aufbereitet wurden, das haptische und kooperative Arbeiten an Gegenentwürfen für einen lebenswerten Stadtteil sowie die Präsentation der Ergebnisse anhand der Modelle, Fotos und Videos für Eltern, Interessierte und Vertreter*innen des ISU und des Kinderdorfes.
In Form eines praxisorientierten Workshops zu Partizipation und Medienbildung nehmen die Teilnehmer*innen selbst an ausgewählten Sequenzen einer IfS teil (Teil 1), erhalten Einblicke in den theoretischen Hintergrund zur BfI und in das Kooperationsprojekt (Teil 2) und besprechen anschließend Chancen, Grenzen und Transferpotenzial der Methode (Teil 3).
Literatur
Blinkert, B. (2017): Kind sein in der Stadt. In: S. Fischer & P. Rahn (Hrsg.): Kind sein in der Stadt. Bildung und ein gutes Leben. Opladen: Verlag Barbara Budrich, S. 27–47.
Borukhovich-Weis, S., I. Gryl, M. Lehner, & C. Scharf (2022, im Druck): Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Partizipation und Kreativität in der Schule. Implikationen für eine Bildung für Innovativität (BfI) im Sachunterricht. In: F. Jaeger & S. Voßkamp (Hrsg.): Wie kommt das Neue in die Welt? Kreativität und Innovation interdisziplinär. Stuttgart: Metzler-Verlag.
Deutsches Komitee für UNICEF e.V. (o. D.): Konvention über die Rechte des Kindes. Abgerufen von https://www.unicef.de/blob/194402/3828b8c72fa8129171290d21f3de9c37/d0006-kinderkonvention-neu-data.pdf. Abruf: 14.07.2022.
Gryl, I.; Borukhovich-Weis, S. & Lehner, M. (2022, im Druck): Schüler*innen zu Neuem befähigen mit „Bildung für Innovativität“. Gestaltung des öffentlichen Raumes und Recht auf Stadt. In: Gryl, I.; Lehner, M.; Hoffmann, K. & Fleischhauer, T. (Hrsg.): Geographiedidaktik – Fachwissenschaftliche Grundlagen, fachdidaktische Bezüge, unterrichtspraktische Anwendung. Band 2. Heidelberg: Springer.
Kenner, S. (2021): Politische Bildung in Aktion: Eine qualitative Studie zur Rekonstruktion von selbstbestimmten Bildungserfahrungen in politischen Jugendinitiativen. Wiesbaden: Springer VS.
Klundt, M. (2022): COVID-Krise und Kinderrechte. Sozial Extra 46, S. 110–114.
Popitz, H. (1997): Wege der Kreativität. Tübingen: Mohr Siebeck. Scherr, A. (2010): Subjektivität als Schlüsselbegriff kritischer politischer Bildung. In B. Lösch, & A. Thimmel (Hrsg.), Kritische politische Bildung. Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 303–314.
Maywald, J. (2012): Kinder haben Rechte! Kinderrechte kennen – umsetzen – wahren. Für Kindergarten, Schule und Jugendhilfe (0–18 Jahre). Weinheim/Basel: Beltz.
Weis, S; Scharf, C. & Gryl, I. (2017): New and even newer. Fostering Innovativeness in Primary education. In: IJAEDU (International E-Journal of Advances in Education) 3, 7, S. 209-219.
Sina Marie Nietz (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg)
Vertrauensverlust, Demokratisierung und Blockchains
Weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung ist zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt eine von der Friedrich Ebert Stiftung unter dem Titel „Vertrauen in Demokratie” 2020 veröffentlichte Studie (vgl. Decker et al. 2020). Die Bürger:innen geben in der Befragung zudem an, dass sie sich mehr Möglichkeiten zur aktiven Mitgestaltung der Politik wünschen. Das Erstarken rechtsnationaler Akteure und Parteien, Korruptionsfälle innerhalb etablierter Parteien sowie aktuelle gesellschaftliche Krisen befeuern den politikwissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs um ein fehlendes Vertrauen in demokratische Wahlen, demokratische Vertreter:innen und demokratische Institutionen. Mehr Transparenz innerhalb des politischen Entscheidungsfindungsprozesses, die Bekämpfung von Korruption sowie eine stärkere Einbindung größerer Bevölkerungsgruppen bzw. die Förderung demokratischer Beteiligung werden in diesem Kontext als mögliche Gegenstrategien diskutiert. An diesen drei Punkten setzen auch sogenannte Distributed-Ledger-Technologien (DLT) an. Darunter sind vor allem Blockchain-Anwendungen zu verstehen, deren bekanntester Vertreter die Kryptowährung Bitcoin ist (vgl. Sixt 2017, Rosenberger 2018). Blockchains stellen eine Art dezentrale Datenbank dar, die alle getätigten Transaktionen speichert. Die Verifizierung einer Transaktion bzw. einer Information innerhalb der Datenbank erfolgt über alle im Netzwerk befindlichen Akteure. Dies macht die Manipulation des Inhaltes bei einer ausreichend großen Anzahl an Nutzer:innen unwahrscheinlich bis unmöglich (vgl. Wagener 2018: 389). Der Begriff Blockchain 3.0 bezeichnet den Eintritt der Blockchain-Technologie in gesellschaftliche Bereiche außerhalb des Finanz- und Bankensystems. Die Möglichkeiten, Herausforderungen und Risiken von Blockchains werden heute beispielsweise im Kontext des Gesundheitswesens, der öffentlichen Verwaltung sowie von politischer Transparenz und Liquid Democracy diskutiert (Wagener 2018, Swan 2015, Adler 2018, Schwanholz/Zinser 2019). Es gibt auch erste theoretische Arbeiten zu den Möglichkeiten des Einsatzes von Blockchains bei Wahlen. Diese Ansätze münden teilweise in der Idee eines transparenten, vollautomatisierten und lückenlosen Systems, welches den bürokratischen Komplex des Staates ersetzen könnte (vgl. Swan 2015: 44f.). Entsprechende Überlegungen können unter dem Begriff E-Government zusammengefasst werden. Diese Domäne befindet sich noch in ihren Anfängen und geht mit vielen offenen Fragen einher, so beispielsweise auch mit der Frage nach der Rolle politischer Bildung im Zusammenhang eines möglicherweise grundlegenden und einschneidenden Umbruchs von Politik und Demokratie durch technologische Prozesse.
Literaturverzeichnis
Adler, Anja (2018): Liquid democracy in Deutschland. Dissertation. 1. Auflage. Bielefeld: transcript Verlag.
Decker, Frank/Best, Volker/Fischer,Sandra/Küppers,Anne (2020): Vertrauen in Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik? Für ein besseres Morgen, Friedrich Ebert Stiftung.
Rosenberger, Patrick (2018): Bitcoin und Blockchain. Vom Scheitern einer Ideologie und dem Erfolg einer revolutionären Technik. 1. Aufl. 2018. Berlin, Heidelberg: Springer.
Schwanholz, Julia/Zinser, Lavinia (2019): Licquid Democracy. In: Klenk, Tanja/Nullmeier, Frank/Wewer, Göttrik (Hrsg.): Handbuch Digitalisierung in Staat und Verwaltung, S. 1-12.
Sixt, Elfriede (2017): Bitcoins und andere dezentrale Transaktionssysteme. Blockchains als Basis einer Kryptoökonomie. Wiesbaden: Springer Gabler. Swan, Melanie (2015): Blockchain. Blueprint for a new economy. First edition. Beijing, Cambridge, Farnham, Köln, Sebastopol, Tokyo: O'Reilly. Rosenberger, Patrick (2018): Bitcoin und Blockchain. Vom Scheitern einer Ideologie und dem Erfolg einer revolutionären Technik. 1. Aufl. 2018. Berlin, Heidelberg: Springer.
Wagener, Andreas (2018): Politische Disruption: Die Digitalisierung der Politik und die libertäre Technologie der Blockchain. In: Sebastian Liebold, Tom Mannewitz, Madeleine Petschke und Tom Thieme (Hrsg.): Demokratie in unruhigen Zeiten: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, S. 387–396
Johannes Schmoldt (Universität Erfurt)
Digital (un)souverän? Wieviel Nachrichten- und Informationskompetenz braucht die politische Bildung?
Die Anforderungen an das politische Urteilsvermögen von Bürgerinnen und Bürgern sind durch Globalisierung und Digitalisierung deutlich gewachsen. Nicht nur die Welt erscheint vielen fremd und unverständlich geworden zu sein. Zunehmend fällt es Bürgerinnen und Bürgern als Internetnutzerinnen und Nutzern schwer im Digitalen zwischen verschiedenen Kommunikationsabsichten zu unterscheiden und diese kritisch zu beurteilen. Dies stellt die politische Bildung vor die Herausforderung, zum digitalen Empowerment der Bürgerinnen und Bürger beizutragen. Und zwar im Hinblick auf ihre digitale politische Urteilsfähigkeit. Eine Studie der »Stiftung Neue Verantwortung« kam 2021 zu dem Ergebnis, dass es den Befragten zum Teil schwerfällt, zwischen Werbung, Information, Desinformation und Meinung zu unterscheiden. Über 50 Prozent hielten einen Werbe-Eintrag trotz Kennzeichnung für Information, nur 23 Prozent erkannten, dass es sich um Werbung handelt. Auch Falschinformationen wurden nur von 43 Prozent als solche identifiziert. Rund ein Drittel hielt die Falschinformation für eine Informationen. Außerdem bereitet es Nutzern Schwierigkeiten zwischen meinungs- und tatsachenorientierten Beiträgen zu unterscheiden. Vor allem bei journalistischen Texten ist diese Differenzierung zunehmend schwierig. So wurde etwa von knapp einen Drittel der Befragten ein Kommentar für eine tatsachenorientierte Berichterstattung gehalten, nur 15 Prozent waren sich hier nicht sicher. 1 Dieser Befund hat für die digitale politische Bildung große Relevanz. Denn wenn immer mehr Menschen ihre Informationen über Politik und Gesellschaft über das Internet beziehen, allerdings die Seriosität der Quellen nicht beurteilen und unterscheiden können, scheinen die Grundfesten der demokratischen Informationsgesellschaft ins Wanken zu geraten. Der geplante Beitrag bezieht die aktuellen Befunde der zitierten Studie zum digitalen Nachrichten- und Informationsverhalten der deutschen Bevölkerung auf die Diskussion um die Lehrinhalte digitaler politischer Bildung. Hierbei wird ausgehend von diesem Befund, der Bogen zur Debatte um Mündigkeit und politische Urteilskraft in der Politikdidaktik geschlagen. Es wird argumentiert, dass digitale politische Bildung vor allem dazu befähigen soll, das eigene, digitale Nutzerverhalten selbstkritisch zu reflektieren (1) und digitale Inhalte eigenständig zu beurteilen (2). Darüber hinaus sollte digitale politische Bildung über die grundlegenden Funktions- und Wirkungsweisen digitaler Eigenlogiken, wie zum Beispiel von Algorithmen und Suchmaschinen) aufklären (3).
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Meßmer, Anna-Katharina; Sängerlaub, Alexander; Schulz, Leonie 2021. „Quelle: Internet“? Digitale Nachrichten- und Informationskompetenzen der deutschen Bevölkerung im Test.
https://www.stiftung-nv.de/sites/default/files/studie_quelleinternet.pdf
Leena Simon (Digitalcourage)
Digitale Mündigkeit in der Bildung
Am besten lernt man Digitale Mündigkeit gleich von Anfang an mit. Doch wie vermittelt man diese an junge Menschen? Pädagog.innen, Eltern und Ausbildungskräfte tragen eine besondere Verantwortung bei der Vermittlung von digitaler Bildung. Denn Computer sind ein Machtwerkzeug und im Netz begegnen wir tagtäglich tausenden von Manipulationsversuchen, Fakes, Angriffen, Tracking und Betrügereien. Wenn die digitale Welt auch in Zukunft noch lebenswert sein soll, müssen wir heute unsere Jugend darin schulen, sich ihre Freiheit nicht abluchsen zu lassen.
Thomas Stornig und Susanne Reitmair-Juárez (Pädagogische Hochschule Tirol, Universität Innsbruck)
"Digitale Grundbildung“ für die Sekundarstufe I in Österreich Potenziale und Leerstellen aus Sicht der Politischen Bildung
Die Digitalisierung stellt eine der zentralen Transformationsprozesse und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts dar. Damit verbundene gesellschaftliche Veränderungen haben Auswirkung auf die politische Teilhabe der Bürger:innen (Kenner & Lange, 2020). Eine immer stärker digitalisierte Welt verlangt nach spezifischen Medienkompetenzen und einem reflektierten, mündigen Umgang mit neuen Technologien und Medien. Während die Politische Bildung das Lernen über und Lernen mit Medien allgemein zu ihren Aufgaben zählt (Heldt, 2022), ist sie heute besonders gefordert, sich den Auswirkungen der Digitalisierung zu widmen. Da unterschiedliche Disziplinen diese Thematik bearbeiten, gilt es, ihren spezifischen Beitrag zur Entwicklung politischer Medienkompetenz erst zu präzisieren (Sander, 2017).
In Österreich findet gerade ein umfassender Überarbeitungsprozess der allgemeinbildenden schulischen Lehrpläne und damit verknüpfter Lehramts-Curricula statt. Ausgerechnet das für interdisziplinäre Zusammenarbeit und Projektunterricht prädestinierte, neu etablierte Fach „Digitale Grundbildung“ für die Sekundarstufe I wurde aber aus diesem Rahmen herausgelöst. Es startet bereits im Herbst 2022, nach kurzer und wenig transparenter Begutachtungs- und Implementierungsphase, mit äußerst kurzen Vorbereitungszeiten für die Entwicklung entsprechender Lehrmaterialien und Weiterbildungsmaßnahmen. Der Vortrag gibt einen Einblick in inhaltliche, didaktische und politische Auseinandersetzungen um die Ausrichtung des neuen Fachs. Vertreter:innen der Informatik, Medienpädagogik und von an Employability ausgerichteten Unternehmerinteressen versuchten die Ausgestaltung des Lehrplans jeweils zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die nun beschlossene Fassung zeigt eine deutliche Schwerpunktsetzung in Richtung Informatik und Anwendungskompetenzen von Technologien. Weitgehend außen vor blieben in diesem Prozess die Expertisen der Politischen Bildung. Unter Berücksichtigung rezenter politikdidaktischer Ansätze analysieren wir, welches Potenzial aus Sicht der Politischen Bildung der neue Fachgegenstand hat, welche Leerstellen bestehen und welche Potenziale im Hinblick auf die Gestaltung einer digitalisierten Gesellschaft ungenützt bleiben.
Literatur
Heldt, I. (2022). Medienbildung im Zeitalter der Digitalisierung. In W. Sander & K. Pohl (Hrsg.), Handbuch politische Bildung (5. vollständig überarbeitete, S. 374–381). Wochenschau.
Kenner, S., & Lange, D. (2020). Bürgerbewusstsein, politisches Lernen und Partizipation im digitalen Zeitalter. DDS – Die Deutsche Schule, 2020(2), 178–191.
Sander, W. (2017). Von der Medienkompetenz zur Medienkritik? Plädoyer für eineNeuorientierung im Umgang mit digitalen Medien in der politischen Bildung. Festschrift für Hans-Werner Kuhn. In M. Gloe & T. Oeftering (Hrsg.), Perspektiven auf Politikunterricht heute. Vom sozialwissenschaftlichen Sachunterricht bis zur Politiklehrerausbildung. (S. 129–148). Nomos Verlagsgesellschaft.
Dr. Rahel Süß [Keynote] (Humboldt-Universität zu Berlin)
Digitale Souveränität als Grundlage kritischen Denkens?
Was ist digitale Souveränität und welche Rolle spielt sie für kritisches Denken? Digitale Technologien stellen unsere demokratischen Gesellschaften infrage. Überwachungstechnologie, Desinformation und die Macht großer Technologiekonzerne ist nicht nur ein Gerechtigkeitsproblem, es ist ein Demokratieproblem. Wie muss sich politische Bildung verändern, um demokratische Kontrolle und Teilhabe in einer digitalisierten Welt zu fördern? Die Behauptung ist, dass es ohne radikale Demokratisierung keine digitale Souveränität geben wird.
Prof. Dr. Florian Weber-Stein [Keynote] (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg)
Mythos „digitale Souveränität“. Über Möglichkeiten und Grenzen Politischer Bildung in der digitalen Verstrickung
Der Begriff der „digitalen Souveränität“ als Leitperspektive politischer Bildung weckt falsche Erwartungen. Souveränität im digitalen Zeitalter ist weder im staatsrechtlichen Sinne hoheitlicher Rechtssetzung und -durchsetzung (z.B. gegenüber transnationalen big tech-Akteuren) zu verwirklichen, noch im übertragenen Sinne als Unabhängigkeit und Autonomie des handelnden Individuums in digitalisierten Lebenswelten ein realistisches Ziel. Ausgehend von Hannah Arendts (vor-digitaler) Kritik der Souveränität wird skizzenartig rekonstruiert, weshalb das Konzept weniger denn je zur Charakterisierung der conditio humana im Zeitalter der Digitalisierung geeignet ist. Als Gegenentwurf wird unter Rekurs auf den französischen Technik-Philosophen Bernard Stiegler das Konzept der „digitalen Pharmakologie“ vorgeschlagen: Digitale Medien sind demnach im übertragenen Sinne als Pharmaka zu verstehen, die sowohl Gifte als auch Heilmittel sein können – abhängig v.a. von den sozialen Praktiken, in die deren Gebrauch eingebettet ist. Übertragen auf politische Bildung bedeutet dies: Während eine von äußerer Manipulation unbeeinflusste, selbstbestimmte Haltung gegenüber digitalen Medien (digitale Souveränität) utopisch ist, gibt es doch verschiedene Umgangsformen mit digitalen tools, die mehr oder weniger „toxisch“ sind. Ziel einer politischen Bildung in diesem Sinne wäre es, die Verstrickungen der der eigenen Subjektivität und Gesellschaftlichkeit in die digitale Infrastruktur der Gesellschaft zu reflektieren, um Räume für eine gemeinsame verantwortungsvolle Mediennutzung zu schaffen (digitale Auto-Pharmakologie). Von diesen theoretisch-konzeptionellen Überlegungen ausgehend werden abschließend Brücken in den politikdidaktischen Diskurs (z.B. Digital Citizenship Education) geschlagen und exemplarisch einige didaktische Konzeptionen auf ihr Verständnis einer digitalen politischen Bildung befragt.
David Waldecker (Universität Siegen)
Daten als Praktiken und Souveränität als problematisches Selbstverhältnis. Zur Kritik der Datensouveränität
Neben der digitalen Souveränität wird seit einiger Zeit der Begriff der „Datensouveränität“ in Anschlag gebracht, um die Rechte der Einzelnen an ihren Daten gegen staatliche und privatwirtschaftliche Zugriffe zu verteidigen. So hat etwa der Deutsche Ethikrat ein umfassendes Plädoyer für die Stärkung der Datensouveränität vorgelegt (2018). Das Konzept präsentiert sich als eine Weiterentwicklung von Überlegungen zur informationellen Selbstbestimmung und zum Datenschutz, die angesichts der Ubiquität digital-vernetzer Medien nicht mehr zeitgemäß scheinen. Das Papier des Ethikrats ist zwar auf den Gesundheitsbereich bezogen; da es dort aber um besonders sensible personenbezogene Daten geht, können die Überlegungen zur „informationellen Freiheitsgestaltung“ auch in Bezug auf alltägliche Datenpraktiken, etwa im Umgang mit Smartphones und smarten Haushaltsgeräten, angewandt werden.
Der hier vorgeschlagene Vortrag soll die Stellungnahme des Ethikrats mit Bezug auf die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers sowie Ansätze aus der soziologischen Wissenschafts- und Technikforschung einer immanenten Kritik unterziehen, um die Potentiale und Schwächen des Konzepts zu eruieren. Es wird sich zeigen, dass das Konzept der Datensouveränität zwar ambitioniert ist, aber zwei Schwächen aufweist. Zum einen kann mittels des Konzepts nicht erläutert werden, wie angesichts der Vielzahl an täglich produzierten Daten eine Form von Kontrolle oder Souveränität des Subjekts über diese Datenflüsse hergestellt werden kann. Neben dieser empirischen Schwäche zeigt sich aber auch der zweite Teil des Begriffs, jener der Souveränität als problematisch. Mit der Souveränität wird ein staatstheoretischer Begriff auf Individuen angewandt; dies macht den bereits umstrittenen Begriff (vgl. Salzborn/Voigt 2010) noch schwieriger greifbar. Das Problem ist hier wohl darin zu sehen, dass Vorstellungen von Macht, Kontrolle und Gewalt, die mit dem Souveränitätsbegriff einhergehen, als Perspektive für ein Selbstverhältnis des Individuums ausgegeben werden. Der Vortrag will im Gegenzug vorschlagen, in der politischen Bildung eher an das Konzept der Mündigkeit anzuknüpfen, wie es etwa Adorno vorgeschlagen hat.
Literatur
Adorno, Theodor W. 2013. „Erziehung zur Mündigkeit“. In Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 - 1969, 133–47. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Deutscher Ethikrat. 2018. Big Data und Gesundheit. Datensouveränität als informationelle Freiheitsgestaltung. http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-big-data-und-gesundheit.pdf.
Mirjam Wenzel; Katharina Asen‐Molz; Christian Gößinger und Astrid Rank (Universität Regensburg)
Digitale Souveränität bereits in der Grundschule? – Erste Ergebnisse einer Interventions-studie zur Förderung professioneller Kompetenzen bei (angehenden) Grundschullehrkräften
Kinder wachsen in einer zunehmend durch die Digitalisierung geprägten Lebenswelt auf. Um sie bei der Entwicklung von Kompetenzen für eine "mündige, souveräne und aktive Teilhabe" an der digital geprägten Gesellschaft zu unterstützen (KMK 2021), ist die Nutzung von digitalen Medien (Lernen mit Medien) nicht ausreichend. Bereits in der Grundschule muss auch eine kritisch‐reflexive Auseinandersetzung über Medien stattfinden – auch hinsichtlich der Auswirkungen der digitalen Phänomene auf die Gesellschaft (s.a. Peschel 2022, Gervé 2022). Denn die Nutzung von sozialen Medien, Suchmaschinen oder Messengern ist z.B. immer auch mit Fragen nach dem Datenschutz oder der Glaubwürdigkeit und Qualität von Inhalten verbunden. Um Auswirkungen von Automatisierungs‐ und Datafizierungsprozessen auf die demokratische Gesellschaft reflektieren oder Herausforderungen im Kontext von Informationsbeschaffung, Meinungsbildung und Kommunikation im Internet erkennen zu können, ist informatisches, mediales und politisches Wissen notwendig. So kann digitale Souveränität und eine digital citizenship angebahnt werden (vgl. auch Urban & Lange, 2022). Vor diesem Hintergrund gilt es, politische Bildung und Medienbildung stärker zusammenzudenken (Gapski, Oberle & Staufer, 2017).
Das Ziel des Forschungsprojekts PoliMeR (Politische Medienbildung Regensburg) ist es, den Aufbau von Kompetenzen für das Unterrichten medienpolitischer Themen in der Grundschule bei Lehrkräften und Studierenden zu unterstützen. Bislang ist unklar, über welche Kompetenzen sie hierfür verfügen und mit welchen Angeboten sich ihre Professionalisierung unterstützen lässt. Im Rahmen einer Interventionsstudie untersucht und fördert PoliMeR daher solche Kompetenzen für ein Unterrichten medienpolitischer Themen bei (angehenden) Grundschullehrkräften (Asen‐Molz et al., 2020). Im Rahmen des Vortrags soll die Interventionsmaßnahme näher erläutert, sowie erste Ergebnisse vorgestellt werden.
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Asen‐Molz, K., Gößinger, C. & Rank, A. (2020). Im Tandem politische Medienbildung stärken – Eine Studie zur Kompetenzentwicklung (angehender) Lehrkräfte zur Förderung von Schüler*innenkompetenzen im Bereich der politischen Medienbildung. In: Kasper, K. et al. (Hrsg). Bildung, Schule und Digitalisierung. Münster: Waxmann.
Gapski, H., Oberle, M. & Staufer, W. (2017). Medienkompetenz: Herausforderungen für Politik, politische Bildung und Medienbildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Gervé, F. (2022). Sachunterricht in der Informationsgesellschaft. In: Becher, A.; Blumberg, E.; Goll, T.; Michalik, K. & Tenberge, C. (Hrsg.). Sachunterricht in der Informationsgesellschaft. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 17‐29.
Kultusministerkonferenz (2021). Lehren und Lernen in der digitalen Welt. Ergänzung zur Strategie der Kultusministerkonferenz "Bildung in der digitalen Welt". https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2021/2021_12_09‐Lehren‐und‐Lernen‐Digi.pdf Peschel, M. (2022). Digital literacy – Medienbildung im Sachunterricht. In: Kahlert, J.; Fölling‐Albers, M.; Götz, M.; Hartinger, A.; Miller, S. & Wittkowske, S. (Hrsg.). Handbuch Didaktik des Sachunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 188‐197.
Urban, J. & Lange, D. (2022). Digitalisierung und Digitaliät. In: Baumgardt, I. & Lange, D. (Hrsg.). Young Citizens. Handbuch politische Bildung in der Grundschule. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.